Zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober hat die Vorsitzende der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag, Nancy Faeser, dazu aufgerufen, einen realistischen Blick auf die Zeit seit dem Mauerfall zu werfen. Deutschland habe nach dem faktischen Zusammenbruch der DDR die staatliche Einheit erreicht, was den 3. Oktober zu einem Tag der Freude mache. Es habe aber auch Versäumnisse gegeben, die mit dem Abstand von fast drei Jahrzehnten ehrlich und offen besprochen werden müssten.

Faeser sagte am Mittwoch in Wiesbaden: „Zweifellos war es eine große historische Leistung aller Deutschen, die Trennung von Ost- und Westdeutschland zu überwinden. In einer geschichtlich einmaligen Situation haben damals kluge und mutige Menschen sehr viele richtige Entscheidungen getroffen, die am 3. Oktober 1990 in der Wiedervereinigung unseres Landes mündeten. Deutschland hat sich seither massiv verändert: Es hat ein größeres politisches und wirtschaftliches Gewicht in Europa und der Welt bekommen, es muss sich deswegen heute international stärker einbringen als das vor der Wiedervereinigung der Fall war.

Ich denke, alle Regierungen seit 1990 sind dieser größeren Verantwortung Deutschlands gerecht geworden. Die Bundeskanzler Kohl, Schröder und Merkel haben erfolgreich dafür gearbeitet, dass unser Land international als gewichtige Stimme der Vernunft gehört wird. Darauf dürfen wir stolz sein.

Zur Realität der deutschen Wiedervereinigung gehört aber auch, dass viele Menschen in unserem Land die Einheit nicht empfinden. Ich sehe mit Bedauern und mit Sorge, dass der alte Westen und der alte Osten emotional nicht beieinander sind und sich in Stellen sogar wieder stärker entfremden. Es sollte unser Anspruch sein, die Gründe für diese gesamtdeutsche Gefühlslage zu analysieren. Politik, die zusammenführt, besteht aus mehr als positiven Statistiken, sie braucht auch positive Emotionen, Zugewandtheit und Sensibilität für die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Menschen.

Ja, wir haben es gemeinsam vollbracht, in den ostdeutschen Bundesländern Handel und Industrie, Infrastruktur und staatliche Einrichtungen neu aufzubauen. Hessen und das übrige Westdeutschland haben davon übrigens auch massiv profitiert. Aber der wirtschaftliche Erfolg kann offenkundig nicht kompensieren, dass zu viele Erwartungen und Hoffnungen, die die Menschen in die Wiedervereinigung gesetzt haben, enttäuscht wurden. Vielleicht waren bei einigen die Erwartungen und Hoffnungen zu groß, zu unrealistisch. Vielleicht waren aber gerade die westdeutschen Eliten damals im Umgang mit diesen Erwartungen und Hoffnungen auch zu unsensibel, zu ökonomisch orientiert und zu wenig bereit, sich auf ein wirklich neues geeintes Deutschland einzulassen.

Nichts von dem, was in den zurückliegenden 30 Jahren zu Verletzungen, Enttäuschungen und einer latenten Abkehr von der Idee eines wirklich vereinten Deutschlands geführt hat, können wir rückgängig machen. Aber wir können uns zusammen bemühen, eine solidarische Zukunft für unser Land zu gestalten. Wir müssen sensibler werden für die Unterschiede, um wieder mehr Gemeinsamkeit in Deutschland zu schaffen. Auch dieses Signal sollte vom 3. Oktober ausgehen, damit dieser Tag ein Tag der Freude für alle Deutschen bleiben kann.“