Die frühere CDU-Justizministerin Eva Kühne-Hörmann hätte nicht für Volker Bouffier in den Landtag nachrücken dürfen, als dieser Ende Mai sein Abgeordnetenmandat aufgegeben hat. Vielmehr hätte der Sitz bei einer verfassungskonformen Anwendung des hessischen Landtagswahlgesetzes freibleiben müssen. Das Nachrücken von Frau Kühne-Hörmann verletzt sowohl die Wahlrechtsgleichheit als auch die Abgeordnetengleichheit und stellt einen Verstoß sowohl gegen grundgesetzliche Normen als auch gegen die Hessische Verfassung dar.
Zu dieser Einschätzung kommt Prof. Dr. Dr. Martin Will, Professor für Staatsrecht und Verwaltungsrecht an der EBS Law School in Wiesbaden, in einem Gutachten, das die Fraktionen von SPD und Freien Demokraten im Hessischen Landtag in Auftrag gegeben haben. Gemeinsam mit Prof. Will stellten am Donnerstag der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Günter Rudolph, und der Vizepräsident des Hessischen Landtags, Justizminister a.D. Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (Freie Demokraten) das Gutachten der Öffentlichkeit vor.
Der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Günter Rudolph, sagte: „Das Landtagswahlgesetz wurde unmittelbar vor dem Ausscheiden von Volker Bouffier aus dem Landtag an einer entscheidenden Stelle im Paragraphen 40 geändert – und zwar ohne, dass der Landtag darüber informiert wurde. Das zuständige Innenministerium vertritt seither die Auffassung, es habe sich bei der Textänderung nur um die Korrektur eines redaktionellen Fehlers gehandelt, die nicht eigens vom Plenum hätte beschlossen werden müssen. Allerdings wusste der Innenminister, wie er selbst zugibt, bereits seit 2016, dass der Paragraph 40 einen Fehler enthielt. Dennoch hat der Minister – statt umgehend den Landtag zu informieren – sechs Jahre lang gar nichts getan und erst kurz vor dem Ausscheiden von Volker Bouffier aus dem Parlament eine ‚Lex Kühne-Hörmann‘ geschaffen. Über die Motivlage kann man spekulieren – aber es liegt nahe, anzunehmen, dass Frau Kühne-Hörmann aus Sicht der CDU irgendwie versorgt werden musste, nachdem klar war, dass sie unter dem neuen Ministerpräsidenten Rhein ihr Amt als Justizministerin verlieren würde. Allein die zeitliche Nähe der Gesetzesänderung zu der damaligen Nachrückerproblematik bei der CDU macht die Sache zu einem ungeheuerlichen Vorgang.“
Justizminister a.D. Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn sagte für die Fraktion der Freien Demokraten: „Wir werden die Unterlagen nun dem zuständigen Landeswahlleiter Kanther vorlegen und sind gespannt auf seine rechtlichen Prüfungen. Wir behalten uns ausdrücklich vor, die Sache auch dem Staatsgerichtshof vorzulegen. Wir erwarten jedoch, dass Herr Kanther die Verfassungswidrigkeit selbst bescheinigt und eine verbindliche Entscheidung zur Aberkennung des Mandats von Eva Kühne-Hörmann trifft.“
Rudolph und Hahn kritisierten unisono den mangelnden Willen der schwarzgrünen Landesregierung, verfassungsrechtliche Normen einzuhalten und zu achten: Das Corona-Sondervermögen, die rechtswidrige Beamtenbesoldung, die fragwürdige Rechtskonstruktion der Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS) sowie Besetzung der LKA-Spitze mit einem politischen Beamten – stets seien CDU und Grüne gemeinsam bereit, ihre politischen Vorhaben auch gegen schwere verfassungsrechtliche Bedenken durchzusetzen.
Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn sagte: „Dass es Schwarz-Grün offenbar nicht einmal schafft, rechtskonform die Nachfolge des direkt gewählten Abgeordneten Volker Bouffier zu regeln, macht fassungslos. Wenn eine Koalition so schlampig agiert, hat sie es nicht anders verdient, als ihre Ein-Stimmen-Mehrheit im Landtag zu verlieren.“
Günter Rudolph sagte: „Innenministerien müssen ein Hort der Rechtssicherheit, der Zuverlässigkeit und der Verfassungstreue sein. Das ist in Hessen schon lange nicht mehr der Fall. Die Verantwortung dafür tragen die CDU-Minister, die seit 23 Jahren im Innenministerium das Sagen hatten und haben – von Volker Bouffier über Boris Rhein bis Peter Beuth. Gut, dass die nächste Landtagswahl die Chance für einen politischen Neuanfang bietet.“
Hintergrund:
Der in seinem Wahlkreis Gießen II direkt gewählte Ex-Ministerpräsident Bouffier hatte am 31. Mai dieses Jahres sein Mandat im Hessischen Landtag niedergelegt. Nachdem der Ersatzkandidat der CDU für den Wahlkreis Gießen II seinen Verzicht auf die Nachfolge Bouffiers als Landtagsabgeordneter erklärt hatte, rückte Eva Kühne-Hörmann über die Landesliste der CDU in den Landtag nach. Der hierfür einschlägige Paragraph 40 des Hessischen Landtagswahlgesetzes (LWG) war erst unmittelbar vor den Ausscheiden Bouffiers im Mai 2022 geändert worden, ohne dass der Landtag hierüber informiert wurde.
Im Innenministerium war bereits seit 2016 bekannt, dass Paragraph 40 in der 2006 veröffentlichten Fassung des LWG möglicherweise problematisch sein könnte, wenn ein direkt gewähltes Mitglied des Hessischen Landtags ausscheidet und der Ersatzkandidat/die Ersatzkandidatin aus dem Wahlkreis nicht (mehr) zur Verfügung steht.
Das LWG wurde seit 2016 mindestens zweimal durch Landtagsbeschluss geändert, um Wahlkreise neu zuzuschneiden und an die verfassungsrechtlichen Größenvorgaben anzupassen. Das hessische Innenministerium hat aber stets davon abgesehen, das Parlament dabei auch über die Paragraph-40-Problematik und eine gegebenenfalls erforderliche Änderung des Gesetzestextes zu unterrichten. Stattdessen wurde das neu veröffentlichte Gesetz 2022 stillschweigend einer „redaktionellen Korrektur“ unterzogen und beim Ausscheiden von Volker Bouffier aus dem Hessischen Landtag erstmals in der neuen Form angewandt.